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Althing

Am dritten Tag stand die Fahrt zur Kontinentalscheide, der Thingstätte, dem Gulfoss-Wasserfall und zu den Geysiren auf dem Programm. Island zeigte sich an diesem Tag von seiner schönsten Seite: blauer Himmel, weiße Wolken, kein Tropfen Regen. Wir verließen Reykjavik Richtung Nordosten und fuhren an der Kreia, dem Hausberg Reykjaviks entlang, einem 900 Meter hohen Tafelberg, der noch schneebedeckt war.

Die erste Station des Tages ist Islands größter Stolz und sozusagen höchstes Staatsheiligtum: Die erste Thingstätte. Seit dem Jahr 930, also gut dreißig Jahre nach der Landung der ersten dauerhaften Siedler, trafen sich dort jeden ersten Vollmond im August Islands Clanführer mit Anhang. Es war ebenso Gerichtstag wie Fest und zugleich Heiratsmarkt. Ganz Island hatte zu dieser Zeit etwa 50.000 Einwohner, und zu welcher Gelegenheit, wenn nicht an diesem Thing, konnte man Bande schließen. Dazu muss man wissen, dass die Besiedelung rundherum an den Küsten lag. Das Landesinnere war so gut wie unbesiedelt, und so ist es bis heute. Die Gerichtsurteile damals aber waren wikingerhaft hart: Enthaupten war ein häufiges Urteil. Es war zudem spektakulär und zeigte die Macht der Thingsprecher, die sich zu ihren Beratungen auf kleine Inseln im benachbarten Lavasee der Thingstätte zurückzogen, um sich der Einreden der Clans zu entziehen. „Die Ereignisse jener Epoche sind in alter Literatur und anderen Quellen festgehalten, deren umfassendste das Isländerbuch und das Landnahmebuch sind. Keine andere Nation der Welt besitzt so klare Berichte über ihre Herkunft und ihren Hintergrund“, schreibt Professor Jón R. Hjálmarsson in seinem Standardwerk über die Geschichte Islands. Nun ja, er war wahrscheinlich nicht in Ägypten und Mesopotamien und meint mit „Welt“ Europa. Aber es trifft zu, dass die Isländer ihre Identität aus diesen alten Schriften beziehen, den Poeten der Edda, der Sagas, den Geschichtsschreibern. Was in Deutschland die Brüder Grimm sind, sind in Island die Saga-Sammler. Die Isländer widmen ihnen allüberall Bronzestatuen. Und die Ironie der Geschichte wollte es, dass Norweger und Dänen auf diese isländischen Autoren zurückgreifen müssen, um etwas aus der Frühzeit ihrer eigenen Geschichte zu erfahren. Das könnte daran liegen, dass man in der Fremde generell mehr über die Heimat schreibt als in der Heimat selbst, weil man in der Fremde die Identität bewahren will, die in der Heimat als selbstverständlich gilt.

Diese Thingstätte also wird von den Isländern als erstes frei gewähltes Parlament der Welt bezeichnet, wobei „Parlament“ ein leicht übertriebener Euphemismus sein dürfte.

Man wählte angeblich einen Führer, aber das waren mehr Clan-Absprachen als Wahlen. Doch lassen wir das. Wir waren nicht dabei und es ist okay. Vor allem aber: Wir können die Umstände von damals nicht wirklich einschätzen.

Fakt ist, dass an dieser Stelle die Kontinentalplatten Europa und Amerika zusammentreffen bzw. auseinanderdriften. Im Durchschnitt der Jahre um zwei Zentimeter. Diese Drift geschieht aber nicht kontinuierlich, sondern in Schüben, sprich in Erdbeben. Für Isländer ist das völlig normal, sie bauen erdbebensicher und verlegen ihre Heißwasser-Pipelines erdbebensicher. Die Thingstätte hat aus diesem Grund die Besonderheit, dass sie in einem Canyon mit steil aufragenden Felswänden liegt, der aus dieser Kontinentalverschiebung resultiert. Die Akustik darin war wohl schon vor tausend Jahren der Grund für die Wahl dieses Ortes. Man versteht im weiten Rund jedes einzelne Wort.

Die Zuschauerkaskade vor der Thingstätte wäre der ideale Ort für eine Gruppenaufnahme von uns Odd Fellows gewesen, doch waren wir zu diesem Zeitpunkt zu weit verstreut, um das zu kommunizieren. Wir machten dennoch ein Foto wenigstens mit den wenigen, die in der Nähe waren.

Im Jahr 930 fand an dieser Stelle die erste Thing-Versammlung Islands statt, 940 Jahre vor der Gründung der ersten Odd-Fellow-Loge in Deutschland.

In der Nähe lag auch eine kleine Häuseranlage mit kleiner Kirche davor (Bild unten). Tanja sagte: „Das ist der Sommersitz des isländischen Präsidenten.“ Er hat sich weiß Gott einen historischen Platz ausgesucht.

Der Bus wartete am anderen Ende des Wanderweges durch den Kontinantaldriftcanyon. Wir waren sozusagen kurz von Amerika nach Europa gegangen und bestiegen wieder unseren gelben Bus.