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Die Gletscherfahrt

Heiße Quellen

Der vierte Tag unseres Island-Abenteuers sollte der spektakulärste werden. Diesmal nahmen wir die Nationalstraße Nr. 1 nach Norden Richtung Hvalfördur-Fjord, den die Straße in einem kilometerlangen Tunnel unterquert. Es ist kein vierspuriger Schweizer Autobahntunnel mit Notausgangslichtern alle hundert Meter, eher ein Bergwerksstollen mit Gegenfahrbahn, in dem man Beklemmung fühlt. Er soll aber sicher sein, sagt Tanja. Auf der anderen Seite kommen wir bald zu einem Gehöft mit Kraftwerkstation. Wir besuchen es hauptsächlich wegen der heißen Quellen, die dort an einem kleinen Hang an die Oberfläche kommen. Überall ist Dampf. Besonders schön ist die Landschaft hier, die einsam vor dem Auge ruht mitsamt einer langen Dampfpipeline darin. Das Blubbern und Rauschen des Wassers, die Dampfsäulen und der weite Blick, sie haben was Besänftigendes zwischen Mensch und Natur. Ein wenig erinnert die Landschaft im Nebel der heißen Quellen an Bilder von Caspar David Friedrich.

Das dazugehörige Gehöft bietet in einer Art Freiluft-Verkaufsbox rote Tomaten an. Ja, rote Tomaten! Gereift unter einem von Islands dampfbetriebenen Gewächshäusern. Fritz nimmt so eine Tüte voll Tomaten für 200 Kronen (500 Gramm) und probiert sie später im Bus. Sie schmecken wie holländische Tomaten, zwar irgendwie nach Tomaten, aber nicht nach Naturtomaten wie aus Italien. Den Isländern ist das nicht nur egal, sondern sie sind stolz, dass sie in ihrem Klima solches zuwege bringen.

Hinzu kommen die Trolle und Elfen, die Saga-Figuren der isländischen Mythologie. Es gibt in Island sogar eine offizielle Elfenbeauftragte, im Augenblick ist das Erla Stefánsdóttir. So gehört zum isländischen  Baugenehmigungsverfahren, zu prüfen, ob durch ein Bauvorhaben Geländeformationen wie große Steine oder Felsen, die von der lokalen Bevölkerung als „von Elfen bewohnt“ angesehen werden, betroffen sind. Das kann der Fall sein, wenn zum Beispiel alte Märchen oder Erzählungen existieren, die dies behaupten. In solchen Fällen wird ein externes Gutachten von einer Person eingeholt, die allgemein als elfenkundig betrachtet wird. Das hört sich an, als ob es in Oberbayern einen vom Staat bezahlten Wolpertingerbeauftragten gäbe. Aber gut. Trolle sollen ja relativ ungefährlich sein.

Eine gute halbe Stunde später kommen wir zu einer seltsamen Wasserfallformation. Das Wasser stürzt hier nicht kammüber in die Tiefe, sondern quillt unterhalb der Erdoberfläche seitlich aus der Felswand und in die Schlucht. Wie das?

Es ist eine Eigenheit der isländischen Gletschervulkane. Wenn unter einem Gletscher ein Vulkan ausbricht, dann schmilzt er das Eis über sich, das den Ausbruch in die Atmosphäre zwar zunächst verzögert, aber eigentlich nur verschlimmert. Denn er kommt umso heftiger hoch, wenn die Lava endgültig das Eis durchbricht und dann förmlich explodiert. Es ist wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull im Jahr 2010. Durch den hohen Druck schmolzen die Staubpartikel zu Glas und wirkten in der Stratosphäre wie Schmirgelpartikel, die ganze Flugzeuge sandstrahlten und sie in blankem Aluminium landen ließen, wo vorher stolze Firmenlogos prangten. Er legte tagelang den Flugverkehr über dem gesamten Nordatlantik lahm.

Was aber hat das mit diesen Wasserfällen zu tun? Das Tausende Grad heiße Magma erkaltet im Eis der Gletscher und bildet eine Gesteinsschicht, die dort eine Scheideschicht zwischen Eis und dem älteren Gestein darunter entstehen lässt. Es ist ein isländisches Naturphänomen, dass das schmelzende Gletscherwasser unterhalb dieser erkalteten Magmaschicht an Stellen wie diesen an die Oberfläche tritt. Es ist, als ob die Erde sich heftig ausweint, nicht aus Trauer oder Gram, sondern aus Freude über die Schönheit ihrer Natur. Jeder Wassertropfen stürzt hier hinab in einer Elementarheit, wie nur Wasser es zuwege bringen kann. Einsames Tosen, einsames Krachen, einsames Stürzen. Nichts Liebliches war da, sondern einzig die unbändige Macht der Natur. Á propos Macht der Natur: Tanja forderte uns auf, die letzte Möglichkeit des Toilettengangs zu nutzen, denn am Gletscher gebe es keine. Am Parkplatz gab es zwei Toilettenhäuschen mit fließend kaltem und warmem Wasser – direkt aus dem Boden. Wir stiegen wieder in unseren gelben Bus und fuhren die letzten Kilometer Richtung Langfjälljöküll, „unserem“ Gletscher. Die Asphaltstraße endete, die Lavapiste begann.

Am Langjökull

Wir erreichten die Stelle, an der die Weiterfahrt für normale Straßenfahrzeuge verboten ist. Auf uns wartet ein Sonderfahrzeug. Alle betrachten es zunächst mit offenem Mund, ungläubig, dass sie mit so einem Ungetüm, das aus einem Hollywoodstudio für Special Effects zu stammen schien, fahren sollten. War es ein „Transformer“ oder wirklich ein irdisches Gefährt? Es hatte acht  schulterhohe Räder, Allradantrieb, zwei lenkbare Achsen, Sperrdifferenzial und ein Cockpit mit GPS, Funk und Überwachungskameras.

Der Fahrer hieß Guttormur und war ein hagerer Isländer der ruhigen Art. Er stellte Fritz eine Testfrage: Ob er wisse, was die drei Buchstaben auf der Motorhaube bedeuten. Aber Fritz wusste das. „Motorenwerke Augsburg Nürnberg“ antwortete er, „from Germany“. Damit hatte er bei Guttormur schon mal gewonnen. Es war also ein MANSpezialfahrzeug, genau gesagt ein umgebauter Militärlaster aus Nato-Beständen, den ein Isländer erwarb, um ihn zu einem Eisfahrzeug umzubauen und damit Geld zu verdienen.

Oben befand sich ein kastenförmiger Passagierraum mit Fenstern ringsum, in dem wir saßen, der Rest des Fahrzeugs war Motor und Technik. Es gab aber noch eine Besonderheit: Tanja und Guttormur hatten zusammen denselben Kurs für ihre Ausbildung als Fremdenführer besucht und sahen sich jetzt seither zum ersten Mal wieder. Sie freuten sich sehr. Beim Anlassen des Motors ging ein Zittern durch das ganze Fahrzeug, und man merkte, dass eine beträchtliche Anzahl von Zylindern hier tätig war, denen ein Getriebe mit mehr als einem Dutzend Gängen zuarbeitete. Zunächst ging es ja noch flott durch ein riesiges Lavafeld, bis wir auf einen Bachlauf stießen. Darüber führte eine sehr kleine Brücke, zu klein für den Zwanzigtonner. Guttormur lenkte den Laster in den Bach und durchfuhr ihn einfach.

Am anderen Ufer wartete ein Geländewagen mit einem Mann darin, der nun vorausfuhr, bis wir die erste Gletscherzunge erreicht hatten. Sie war zu groß, um sie mit Schwung zu überqueren. Der MAN blieb stehen. Man spürte deutlich den Ruck, mit dem das Sperrdifferenzial eingeschaltet wurde. Dann ackerte sich der Laster durch das Schneefeld ruckelförmig mit gewaltsamen Drehbewegungen der Räder. Die Räder hatten Kraft ohne Ende, aber all die Kraft nutzte nichts, wenn sie einsanken und durchdrehten. Und das taten sie. Guttormur ließ den Laster vor und zurück schaukeln und arbeitete sich solchermaßen Meter um Meter vor, bis die Vorderräder wieder felsigen Untergrund hatten und das Fahrzeug aus dem Schnee zogen.

Es war aber klar, dass wir es mit dieser Methode niemals den Gletscher hinauf schaffen würden, der ja komplett schneebedeckt und steiler war. Wir erreichten die Stelle am Fuß des geschlossenen Gletschereises. Hier standen noch zwei weitere Geländewagen und ein Anhänger mit vier Toilettenhäuschen. Ja, Toilettenhäuschen! Der Fahrer unseres Geleitfahrzeugs stieg aus und kam zu uns in den MAN. Er stellte sich vor als Addi – und als Odd Fellow. Er sprach Deutsch. Er erzählte, dass er mit diesem Fahrzeug früher schon durch Grönland gefahren sei. Dies aber sei die erste Tour dieses Jahres, und er sei sich nicht sicher, ob „wir es ganz hinauf schaffen. Die letzten Tage habe es 13 Grad gehabt, und der Schnee sei sehr weich. Auch habe er erst heute die Toilettenhäuschen heraufgefahren und noch nicht aufgestellt, aber man könne sie auch auf dem Anhänger schon benutzen. Damit hatte offenkundig nicht einmal Tanja gerechnet gehabt, dass wir hier Hotelservice geboten bekommen.

Der eigentliche Grund für diesen technischen Stopp aber war ein anderer. Am Fuße des ewigen Eises musste Luft aus den Rädern gelassen werden, um ihre Kontaktfläche zu vergrößern und sie ein klein wenig zu einer Gummiraupe zu machen. Guttormur schraubte an den Ventilen und verband sie mit festen Gummileitungen mit dem Motorkompressor. Das dauerte. Nach zwanzig Minuten hieß es dann „alle einsteigen!“

Jetzt ging es richtig los. Guttormur am Steuer, Addi auf dem Beifahrersitz, Sperrdifferenzial eingeschaltet, der MAN schiebt sich aufs Eis. Noch ist der Anstieg flach und Guttormur schafft es in den zweiten Gang. Die Ränder sinken bedenklich tief in den Schnee, aber die unbändige Kraft treibt sie voran. Sigrid und Fritz sitzen auf der Rückbank und schauen hinten hinaus. Unter ihnen wächst eine Fahrspur wie am Fließband heraus, das sich etwa mit fünf Stundenkilometer fortbewegt. Dann kommen die ersten Ruckler. Aber der MAN schafft es – noch. Wir passieren ein Schlittenhundelager mit mehreren Dutzend Huskies, fertig angeschirrt vor Hundeschlitten, deren Besitzer auf Touristen warten. Zu früh für diese Jahreszeit. Nur ein Gespann spurt in der Ferne schräg den Gletscher hinauf und verschwindet über den Gletscherkamm. Später sollte uns klar werden, dass Hundeschlitten mit weniger als einem PS an Hundekraft beweglicher sind in dieser Umgebung, als ein Tausend-PS-Gefährt.

Der Gletscher wird steiler, die Sonne gleißt, die Räder sinken ein. Guttormur rührt im Getriebe des MAN wie ein Konditor in der Teigmaschine. Im Passagierraum ist es still geworden. Keiner redet mehr. Hinten am Rückfenster ist das Fließband stehen geblieben, der MAN stampft wie ein Schiff in schwerer See und kommt nicht mehr voran. Die Räder drehen durch. Addi steigt von der Fahrerkabine aufs Dach und schaut nach, wie tief die Räder im Schnee stecken. Dann sagte er Guttormur was auf Isländisch. Der Laster rollt zurück, zentimeterweise. Jedem ist klar, wenn er die Spur verliert, ist es aus. Guttormur ist ein sehr erfahrener Gletscherfahrer, er weiß, dass er sich eine Anfahrrampe walzen muss, um weiterzukommen. Es gelingt ihm, vier, fünf Meter Schnee zu plätten, um darauf Schwung zu holen. Die Kunst ist nur, dass das genügen muss, um in den zweiten Gang schalten zu können. Er schafft es. Unter großem Bangen von uns Passagieren quält sich das Fahrzeug den Gletscher hinauf. Wird langsamer. Keine Zeit zum Runterschalten in den ersten Gang. Aber es nutzt nichts. Addi lehnte sich weit hinaus und beobachtet die Räder. Er schaut nach oben auf den Gletscherkamm. Der Wind pfeift ihm ins Gesicht.

Die Steigung vor dem Gletscherkamm nimmt noch einmal zu. Die Räder ruckeln wieder im Schnee. Auf keinen Fall dürfen sie jetzt steckenbleiben. Da entscheidet Addi, das Experiment abzubrechen. Das aber ist leichter gesagt als getan. Draußen bläst ein gehöriger Sturm, sie kommen nicht mehr vorwärts, aber wie können sie den MAN wenden? Es ist wie auf dem Meer, wenn ein Segelschiff beidreht, um die Segel zu reffen. Guttormur lenkt nach rechts und bringt damit den Laster in eine bedenkliche Schräglage, aber er kommt auch besser voran. Er bugsiert ihn in eine leicht nach unten geneigte Position, in der er anhalten kann und danach wieder anrollen – bergab. Aber wir halten an. Zweihundert Meter unterhalb des Gletscherkamms. Wir dürfen aussteigen. Sogleich merken wir, warum Guttormur den Laster genau in diese Position gedreht hat. Der Ausstieg liegt leeseits. Sobald man aus dem Windschatten des Gefährts tritt, weht es einen förmlich um. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass hier Sturm ist.

Die Anspannung der Bergfahrt löst sich. Jetzt merken wir, in welch atemberaubender Landschaft wir sind. Pastellfarbenes Licht, weiße Wolken spielen wie junge Raubkatzen um die Berggipfel, jagen und zausen einander und verändern das Panorama von Minute zu Minute. Sigrid holt eine Flasche Schladerer Kirschwasser aus ihrem Gepäck. Die Wolken werden jetzt noch imposanter.

Jens denkt sich, wozu habe ich die Odd-Fellow-Fahne dabei? Es dauert nicht lange, da steht er wie Roald Amundsen am Südpol und posiert für Gott und die Welt: „Odd Fellows am Langjökull! Stehen zweihundert Meter unterhalb des Gipfels. Alle Wohlauf! Proviantlage gut! Stimmung bestens!“ Die Fahne ist kaum zu halten im Sturm, aber es reicht für die entscheidenden Erinnerungsfotos.

Auf der Talfahrt reden wir Passagiere wieder miteinander, obwohl das Experiment noch nicht ausgestanden ist. Tatsächlich gerät der MAN kurz vor Ende der Eisschicht wieder in Tiefschnee und verpasst die Passage seiner eigenen alten Spur auf die rettende Landzunge. Addi springt aus der Fahrerkabine in den weichen Firn, sinkt bis zum Knie ein. Guttormur schlägt die Räder ein nach links, so weit es geht. Die Druckluftschläuche drohen von den Rädern erfasst zu werden. Addi hält sie von den Felgen ab, stapft nebenher, während sich der Laster zentimeterweise vorwärts in eine Kurve schiebt. Alle schauen gebannt aus dem Fenster, wie Addi um den Laster kämpft und Guttormur um den Kurvenradius. Es ist wieder still geworden in der Fahrgastkabine.

Schließlich erreichen wir das rettende Ufer, sprich festen Untergrund – und Addis Geländewagen an der Basisstation mit dem Toilettenanhänger. Es gibt wieder eine Pause. Diesmal werden die Reifen aufgepumpt für die Rückfahrt zu unserem gelben Bus.

Tanja übernimmt wieder die Kommunikationshoheit und trägt mit ihrem trockenen Humor zur Lockerung der Anspannung bei. Wir sind trotz Gletscherabenteuer genau im Zeitplan. „Ihr funkchtioniert wie ein Schwyzer Uhrwerkch“, lobt sie uns.

Belohnt wird unsere Pünktlichkeit mit einem Abstecher am Rückweg nach Reykhold zu Snorri Sturlusons Haus. Snorri Sturluson kennt jeder auf Island. Denn zu Snorri Sturluson gibt es auch eine typisch isländische Geschichte. Er lebte zwischen 1179 und 1241, war zweimal Vorsitzender der Isländischen Generalversammlung und ein erfolgreicher Politiker und noch mehr ein Geschichtenschreiber, weniger aber ein geschickter Krieger. 

Der norwegische König hielt ihn für einen Verräter und dingte einen Mörder, Gissur Thorwaldson, der Snurri in einer Septembernacht des Jahres 1241 in seinem heißen Pott beim Baden erdolchte. Snurris Geschichten aber leben noch heute.

Neben diesem historischen Mörderpott steht heute eine Kirche, in der uns Tanja Snorris Geschichte erzählte.