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Die Südküste

Um es gleich vorweg zu sagen: Wettermäßig war die Tour zur Südküste die am wenigsten sonnenverwöhnte. Der Himmel war fast den ganzen Tag bezogen. Dass diese Tour dennoch zu einem spannenden Ausflug wurde, verdanken wir Tanja - und gesellschaftlichen Umständen, auf die wir keinen Einfluss hatten. Aber der Reihe nach.

Die erste Station war wieder ein Wasserfall. Den Namen habe ich mir nicht gemerkt, was man mir bitte nicht als islandfeindliche Unhöflichkeit auslegen möchte, sondern nachsehen - wir Bayern sind auch nicht beleidigt, wenn jemand „Dünoschingen“ sagt statt Donaueschingen. Ich könnte den Wasserfall also im Reiseführer nachschlagen, aber wozu?

Er war natürlich wieder imposant und auf irgendeine Weise welt-meist- und größtmeistund sonstwas. Und damit letztliche Zweifel ausgeräumt seien, stellte man demonstrativ eine Flasche Sekt mit vier Gläsern vor dem Wasserfall auf. Damit war es zumindest der welt-meist-fotografierte Wasserfall mit Sektgläsern im Vordergrund. Um es zu wiederholen: So sind sie, die Isländer. Einfach erfinderisch in welt-meist- und welt-größt- . . .

Woher das kommt? Es steht schon am Anfang dieser Geschichte.

Fritz fragte sich, welchen Einfluss Tanjas Lebenswerdegang auf ihre Schilderung über Island hat. Sie ist sehr Island-freundlich, um nicht zu sagen Island-begeistert. Ihre Erzählungen über Island und die detaillierte Geschichte des Landes erweckten den Eindruck, dass sie diese besser kennt als die Einheimischen. Zum Beispiel die Begegnung mit Guttormur, ihrem Touristenkurs-Kollegen, dem MAN-Gletscherfahrer. Sie war ihm überlegen an Wissen und selbstverständlich an Sprachkenntnissen. Dafür kann Guttormur nichts, aber Tanja, die Schweizerin, wusste so viel über Island, wie es kein normaler Bayer über Bayern weiß, obwohl auch der Bayer gewöhnlich sein Land liebt.

Tanja sollte also demnächst den isländischen Nationalorden erhalten für Verdienste um das Land. Sie trägt immerhin dazu bei, dass Touristen aus Deutschland trotz der hohen Preise wiederkommen würden.

Dann fuhren wir weiter und vorbei an einigen isländischen Bauernhöfen, die hier weit mehr Bedeutung haben als Höfe bei uns in Deutschland. Sie sind hier im etymologischen Wortsinn „Gehöfte“ mit historischem Gebietsanspruch und einer Art niedriger Gerichtsbarkeit, was kleine Streitigkeiten betrifft. Da entscheidet sozusagen der Patron. Die größeren Streitigkeiten oder wenn jemand auf seinem Recht besteht, gehen natürlich nach Reykjavik.

Die nächste Station mit unserem gelben Bus ist wieder ein Wasserfall, aber diesmal wirklich ein besonderer, unabhängig von Sektgläsern. Seine Besonderheit besteht darin, dass er einen Regenbogen erzeugt, wie ihn Fritz in dieser Klarheit und Größe noch nie gesehen hat. Und er kam schon weit herum in der Welt, zumindest was Wasserfälle und Regenbögen betrifft. Aber nicht einmal die Niagara-Fälle zwischen Kanada und USA bieten das, was hier zu sehen war.

Fritz mühte sich die Treppe neben dem Wasserfall hinauf, Hunderte von Stufen, und wagte den ebenso verbotenen wie abgesperrten, doch unheimlich lockenden Weg zur Halbhöhe des Wasserfalls, also der Stelle, die sozusagen auf Augenhöhe mit dem Wassersturz war. Der Weg war glitschig, der Standort war glitschig. Er bot Platz für nur eine Person und war zudem nichts für Schwindelängstliche. Fritz als ehemaliger Aktiver der alpinen Bergwacht war nicht ängstlich. Er hatte den Regenbogen bereits in seiner Kamera, als Jens und Anke ankamen. Er ermunterte sie, näher zu kommen, um das Schauspiel zu sehen. Jens: „Das ist ja viel imposanter als von ganz oben.“ Fürwahr, das war es. Man brauchte in diesem ewigen Wasserdunst nur ein ordentliches Putztuch fürs Objektiv, das binnen Sekunden wieder beschlug. Man hatte also nur Sekunden Zeit für das Foto. Es war wie in einer Waschküche. Und glitschig. Fritz machte den Platz des „Best View“ frei und ging. Er sagte noch: „Passt auf euch auf!“

Der Regenbogen-Fall war am schönsten anzusehen von einer exponierten, aber auch „verbotenen“ Position aus (siehe grüner Pfeil). Absperrseile sollten Touristen abhalten. Anke Warmers hielt das nicht ab. Sie war schließlich keine Sandalentouristin in Taormina/Sizilien, sondern Islandfahrerin. Der Wind pfiff, das Wasser sprühte, glitschig war der Grund, aber gerade recht für Natur pur!

Gehöft neben dem Wasserfall. Jedes einzelne Gehöft hat Bedeutung, man kennt es beim Namen. Und wenn etwas Naturgewaltiges passiert wie ein Vulkanausbruch, dann kommt ganz Island zu Hilfe. Auch so sind sie, die Isländer. Sie leben buchstäblich auf dem Vulkan. Das prägt die Mentalität. Sie sind allein damit, und deshalb gerade solidarisch – zumindest diesbezüglich.

Dann erreichen wir einen besonderen Strand mit besonderen Felsformationen. Eigentlich sollten wir hier auf die berühmten Papageientaucher stoßen, eines der Wahrzeichen von Island, die aber noch fast alle im Winterquartier waren. Allein Sigrid sah einen davon, einsam und etwas traurig.

Tanja hatte vor dem Wasser gewarnt, es könne heimtückisch sein. „Bitte auf keinen Fall baden“, appellierte sie. Angesichts der Temperatur von ca. 7 Grad in der Luft eher eine überflüssig Warnung. Hier war keine Thermale, hier war nur kalter Strand.

Plötzlich trat Fritz auf einen harten Gegenstand. Er puhlte ihn mit den Schuhen aus dem Sand. Es war das Skelett eines Fisches. Tanja kam zufällig heran und sah es auch. „Der muss wohl seit Monaten schon hier liegen, abgenagt, wie der aussieht.“

Jens steht hundert Meter weiter im Sand. Er hält sein iPhone ans Ohr gepresst und sieht gar nicht entspannt aus. Was hat er denn?, fragt sich Fritz. Ein Anruf von zu Hause? Während die anderen zu
den örtlichen Naturphänomenen gehen, bleibt Jens am Telefon. Irgendwas stimmte nicht. Noch aber schöpfte niemand Verdacht, dass es etwas mit unserer Reise zu tun haben könnte.

Die Felsformation, die bis fast ins Meer reichte, bot einen spektakulären Anblick. Wie gegossene Betonstelen ragte das Gestein in die Höhe, Stufe um Stufe, als hätte ein Architekt sie entworfen und hier bauen lassen. Fritz stand davor uns versuchte sich zu erinnern, wo er das schon einmal gesehen hatte. Daneben rauschte das Meer, warf Schaumwelle um Schaumwelle ans Ufer, und man musste darauf achten, nicht von einem Ausläufer erwischt zu werden.

Ein paar Meter weiter war eine Art Grotte, die man erst sah, wenn man von der Meerseite her unmittelbar davor stand. Sie bestand aus lauter Kuben, die von der Decke herab zu hängen schienen. Sie maß mehrere Hundert Quadratmeter und wirkte wie ein kubisches Domgewölbe. Wo nur hatte Fritz auch das schon einmal gesehen?

Und plötzlich ging in ihm ein Licht auf wie bei den Sternwerfern am Weihnachten. Die Säulenstelen, das waren die Pilaster der Reykjaviker Kirche, die Kuben, das waren die Kuben in der Harpa, zwei Naturphänomene, keine hundert Meter voneinander entfernt, und natürliche Muster für die prägendsten isländischen Architekturmuster der Gegenwart.

Jens war gar nicht mitgekommen zu diesen beiden Naturphänomenen. Sein iPhone schien sein Ohr zum Leuchten zu bringen. Unwahrscheinlich, dass seine Frau die Geburt eines weiteren Kindes ankündige. Dazu war seine Miene zu angestrengt. Es musste was anderes sein. Sigrid und ich wanderten zu der Grotte und spielten mit den Ausläufern der Wellen. Gar nicht so ungefährlich. Ein paar von uns fingen sich nasse Schuhe ein. Nur Jens, er schien immer noch etwas Ernsteres am Ohr zu haben.

Die Höflichkeit gebot, ihn nicht direkt zu fragen. Er würde es wohl von sich aus sagen, falls es etwas mit der Reisegruppe zu tun haben würde. Zurück im Bus entschied er sich, es der Reisegruppe mitzuteilen, gerade weil es direkt mit ihr zu tun hatte:

„Meine Lieben, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die gute: Ihr müsst heute Abend keine Koffer mehr packen. Die schlechte: Mich hat soeben die Botschaft erreicht, dass die Piloten der Iceland-Air streiken und sich unser Rückflug um zwei Tage verzögern wird.“