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Im Logenhaus von Reykjavik

Der Abend war der gesellschaftliche Höhepunkt der Reise. Jeder hatte ja eine Garnitur Festtagsgarderobe im Koffer, sei es Smoking, dunkler Anzug, Fliegen und Krawatten, Lackschuhe, Abendkleider, weiße Handschuhe oder Kummerbund. So trafen wir uns an der Rezeption des Hotels im Festtags-Outfit, um mit dem Bus zum Logenhaus zu fahren. Das Personal des Reykjavik-Lights-Hotels schaute uns an wie seltene Tiere bei Hagenbeck. Ásbörn der Busfahrer ließ sich nicht beirren und chauffierte seine exotische Fracht zum Logenhaus in der Vonarstræti, direkt neben dem Rathaus.

Wir wurden begrüßt von Bruder Karl Jóhann Ottósson, der die Goethe-Loge und Jens Warmers schon von früheren Besuchen her kennt. Er wollte uns zuerst das Logenhaus zeigen und schlug vor, dies von oben nach unten zu machen. Da das Logenhaus fünf Etagen hat, begann es für die meisten mit einer kleinen Bergtour, für die weniger Geübten gab es einen Aufzug, der aber nur mit Codekarte funktioniert. Es musste also immer ein Logenmitglied mitfahren.

Ganz oben gab es einen Tempel in hellem Holz, in dem etwa 60 Stühle waren. Er ist der jüngste Tempel in dem 1932 erbauten Haus und wurde sozusagen nachträglich unters Dach gebaut, weil es zu viele Odd Fellows gibt und die vorhandenen Tempel nicht mehr den Bedarf decken konnten. Insgesamt tagen 16 Logen in dem völlig ausgebuchten Haus, Odd Fellow-Logen wohl gemerkt. Dazu die Reykjaviker Hafengesellschaft, eng verwoben mit den Odd Fellows und mit der isländischen Wirtschaft. Über 3000 Mitglieder haben die Odd Fellows in Island, das ist etwa ein Prozent der Gesamtbevölkerung der Insel. In den diversen Clubräumen hängen die Freibriefe der einzelnen Logen, der älteste von 1897, der jüngste von 2013. Die einladende Loge für unseren Besuch war die Loge Nr. 7 „Porkell mani“. Das Gründungsdatum ist zwar angegeben auf der Urkunde, aber auf Isländisch, und das sind keine Jahreszahlen, sondern Worte und Bezeichnungen, wie wenn wir sagen würden „Gegründet an Mariä Lichtmess“ oder „an Josefi“, für Nichtisländer also ein Geheimnis. Im Vorraum zum Tempel sind überall Einbauschränke, alle gleich groß und mit Namensschildern versehen. Auf einem steht „Sigridur“, eine Frauenloge. Sigrid gab Fritz einen Stupser und deutete mit dem Kinn auf das Schild. Ja, wir waren hier nicht bei Brüdern des mosaischen Kulturkreises, nicht bei den Rebekkas, die Kamelen Wasser geben, sondern in Wikingerland, bei den -sons und -dottirs, den Söhnen und Töchtern der Edda-Saga.

Ein Stockwerk tiefer, also auf der vierten Ebene, ist der Haupttempel. Er ist mit einer dunklen Holzvertäfelung ausgestattet mit vier Glasfenster-Imitaten, was den Tempel zu einem nordischen Rittersaal macht, von einer tief stehenden Sonne in warmes Licht getaucht. Nun gut, das Licht stammt von Glühbirnen, aber die Meisterstühle in Ost und West, Nord und Süd sind allesamt Throne, der Boden dunkles Parkett mit einem Fünfzackstern in der Mitte aus Ebenholz. Er ersetzt den Teppich, wie wir noch sehen werden.

Wir werden in die Clubräume geleitet. Überall stehen Chesterfield-Möbel, eine deckenhohe Pendeluhr mit Meterpendel tickt im Sekundentakt und schlägt halbstündlich mit sattem Klang. Eine Bedienung mit weißer Schürze fährt einen Getränkewagen herein mit Wein, Bier und Orangensaft. Jetzt kommen nach und nach die weiteren Brüder zur Hallensitzung, ein jeder in dunklem Anzug und mit schwarzer Logenkrawatte mit goldgestickten Kettengliedern. Es fällt auf, dass sie alle die gleiche Krawatte tragen. Die Hände der isländischen Logenbrüder geben Zeugnis, dass sie aus verschiedenen Berufen kommen und zum Teil hart anpacken müssen, vielleicht auf einem Schiff. Aber alle haben einen klaren Blick. Einige wenige können Deutsch, viele Englisch, aber auch nicht alle. Wir verständigen uns auf Englisch, aber die meiste Zeit vergeht mit ständigem Begrüßen und kurzem Vorstellen.

Dann klopft der Marschall mit dem Stab. Zeit für die Hallensitzung der Brüder. Aber nicht nur die Brüder hatten eine Hallensitzung. Die Frauen hatten zufälligerweise zugleich eine Trauerloge für drei kürzlich verstorbene Schwestern. Sigrid notierte:

Hallensitzung der Rebekkas

Völlig unerwarteterweise hatte ich das Glück, an einer Hallensitzung der Frauen teilzunehmen. Das war nicht vorgesehen, denn in Island gibt es keine Offene Festloge wie bei uns. Brüder und Schwestern arbeiten strikt getrennt.

Zufälligerweise fand am Mittwoch eine persönliche Trauerloge für drei verstorbene Schwestern statt, daher war Eydis, Obermeisterin der „Rebekkustúkan nr. 17“, im Logenhaus. Sie begrüßte uns Odd Fellows, auch weil sie die Ehefrau von Bruder Karl Jóhann Ottósson ist. Wir wurden einander vorgestellt und bedauerten beide sofort, dass ich nicht tempelgerecht gekleidet war. Doch Eydis überlegte nicht lange, besprach sich rasch mit ihrer Untermeisterin, beide nahmen mich mit zu einer Kleiderkammer, in welcher es Vorräte gibt für den „case of emergency“ . Ich bekomme dicke, schwarze Strumpfhosen, die ich in aller Eile über meine Strümpfe ziehe und einen bodenlangen schwarzen Samtrock über mein schwarzes Kleid, eine Regalie, die meiner Funktion entspricht (weiß, rosa grün in sehr blassen Farben) und Handschuhe, die mehrfach anprobiert werden, weil sie meinen Unterarm vollkommen bedecken müssen. Nun sagt Eydis mir das Passwort für den Vorraum und das zweite für den Eintritt in die Halle. Sie fragt, ob ich mir das merken kann. Ja, ich kann.

Hallensitzung der Brüder

Die Hallensitzung der Männer war eine normale Arbeitsloge mitsamt einer Ehrung. Auch bei den Männern wurde zweimal das Passwort abgefragt, das Reisepasswort und das Passwort im Einweihungsgrad. Dabei muss man wissen, dass die isländischen Logen grundsätzlich im dritten Grad tagen. Da die Goethe-Loge aber zwei Brüder dabei hatte, die erst den ersten Grad besitzen, wurde extra für uns die Sitzung im Einweihungsgrad abgehalten. Und endlich konnten die Brüder die Aufgabe der äußeren und der inneren Wache einmal hautnah erleben, was in vielen deutschen Logen aufgrund der Dimension der Räumlichkeiten und der Anzahl der Brüder eher selten zum Tragen kommt. Am Ende saßen 51 Brüder in den Reihen, was etwa der Hälfte der Mitglieder dieser Loge entsprach.

Imposant war, dass alle Ämter in vollem Ornat besetzt waren, sogar die Gehilfen von Untermeister und Wache. Und beeindruckend auch im Verlauf der Loge: Sie alle sprachen ihre Texte auswendig, erhoben sich zum Sprechen, drehten sich in förmlicher Manier und setzten sich wieder. Es hatte alles was von höfischem Zeremoniell. Sogar das Verlesen des Protokolls war ein streng reglementierter Akt. Ein nichtisländisches Ohr verstand zwar nur Carlson und Jakobson und Sigurdson und dergleichen, aber das alles laut und deutlich. Am Ende fragte der Obermeister nach eventuellen Einwendungen, was nicht der Fall war. Sein Hammerschlag aber besiegelte nicht nur den Wortlaut des Protokolls, sondern war Anlass für den Protokollierenden Schriftführer, sich zu erheben, mit dem Protokoll zum Obermeisterstuhl zu gehen und dem Obermeister das Protokoll zur Unterschrift vorzulegen. Dieser zeichnete ab und reichte dem Schriftführer das Protokoll zurück. Dieser verneigte sich kurz und ging im Uhrzeigersinn wieder auf seinen Platz.

Wie bereits erwähnt, gab es keinen Teppich. Ein zu ehrender Bruder nahm Aufstellung genau in der Mitte des Fünfzacksterns in der Mitte des Raumes. Später wurde auch ein Bruderlied gesungen, das aber eine andere Melodie hat als unseres in Deutschland. Zwar hatte man uns den Text auf einem Papier gegeben, aber es war nicht wirklich ratsam, das auch nur zu versuchen abzulesen. All die diakritischen Zeichen auf den isländischen Buchstaben verleihen den Wörtern subakustische Trollbotschaften, die kein Nichtisländer je richtig wiedergeben kann.

Nach den Logensitzungen der Männer und der Frauen gab es Kaffee und Kuchen. Auf Sigrid aber wartete noch was anderes: „Eydis führte mich zurück in den zweiten Stock zu den wartenden Ehefrauen und Nichtlogenmitgliedern. Man hatte ihnen einen interessanten Film über Island gezeigt. Ein isländischer Bruder war bei ihnen geblieben um sie zu unterhalten und eventuell noch mehr über Island zu erzählen. Nachdem die Brüder aus der Halle zurückkamen, wurden wir ins Refektorium gebeten. Bruder Karl Jóhann Ottósson begab sich ans Stehpult und begrüßte uns in deutscher Sprache, erzählte die
Geschichte seiner Loge und sprach von der jahrelangen Freundschaft zwischen der Goethe-Loge und der seinen, Stúka Nr. 7. Er zeigte das Willkommensgeschenk für die Goethe-Loge, ein Gemälde des Reykjaviker Logenhauses, in dem wir uns ja gerade befanden. Es war sogar gerahmt. Danach sprachen noch zwei Brüder in Englisch, einer davon war wohl der Großmeister.“

Dann geschieht etwas Unvorhergesehenes. Später sollte Jens beteuern, dass auch er erst unmittelbar davor informiert worden war. Fritz saß in der ersten Tischreihe und bekam das Geschehen unmittelbar mit: Jens Warmers wurde in seiner Eigenschaft als Obermeister der Goethe-Loge Frankfurt nach vorn zum Rednerpult gebeten. Beide Obermeister nahmen an einem vorbereiteten Tisch vor dem Rednerpult Platz, ein Bruder überreichte eine Mappe, in welcher sich die zwei Ausfertigungen eines Vertrages befanden, die von beiden unterschrieben werden sollten.

Vertrag?

Was für ein Vertrag?

Es wurde still im ganzen Refektorium, denn das war wirklich ungewöhnlich, dass unter Logenbrüdern Verträge geschlossen werden, wo traditionell Wort und Handreichen zählen auf Ehr und Gedeih. Aber schnell lichtete sich der Nebel der Befremdung, als klar wurde, worum es in diesem „Vertrag“ ging. Es handelte sich um einen Freundschaftsvertrag zwischen diesen beiden Logen.

Der Wortlaut:

„Freundschaftsvertrag
zwischen Goethe-Loge Frankfurt und St. nr. 7, ƥorkels mána, Reykjavík
Mit der Unterschrift der Obermeister dieser Logen
wird die Freundschaft zwischen den Logen bestätigt.
Möge diese Zusammenarbeit dem Wohl unserer Logen
und der Gesellschaft dienen.
In Freundschaft, Liebe und Wahrheit.
Reykjavik, 7.5.2014
Birgir ƥrarinsson, yfirmeistari, Jens Warmers, Obermeister“


Der Vertrag ist in Isländisch und Deutsch abgefasst und in seinem Wortlaut nicht zu unterschätzen. Denn dieser ist in dem gleichen Maße karg wie bedeutungsvoll. Er beinhaltet drei wesentliche Punkte, die nur zwischen mythologisch nordisch geprägten Gesellschaften in ihrem Inhalt und ihrer ganzen Würde erfasst werden: 1. die Freundschaft zwischen zwei Logen. Das ist was anderes als ein „Freundschaftsvertrag“ zwischen Afghanistan und den USA. Hier ist der Begriff der Freundschaft in dem Sinn eingebracht, wie er bei jeder Aufnahme eines Bruders oder einer Schwester in den Orden beschworen wird. 2. das Wohl der Logen. Mit dem Vertrag wird das Wohl der Logen miteinander verknüpft, dass sie sich gegenseitig helfen. 3. die Gesellschaft, in die beide Logen eingebettet sind. Das ist die Mitte der jeweiligen Volksgemeinschaft.

Auch wenn die isländischen Logen diese Mitte wesentlich gesellschaftszentraler repräsentieren als die deutschen Odd Fellows, die rein mengenmäßig keinem Vergleich damit standhalten, so zählt gerade deshalb die grenzüberschreitende Bruderschaft umso mehr. Der Logengeist ist ja nicht tot in Deutschland, er befindet sich nur in einer Flasche, in die er von den Nazis gesteckt wurde und aus der er seither nie mehr so richtig rauskam. Das hat verschiedene Ursachen, über die zu diskutieren hier den Reisebricht sprengte. Umso bedeutsamer ist so ein Freundschaftsvertrag, deren es schon seit fünfzig Jahren hätte mehr geben sollen. Dann wäre die Lage der Odd Fellows in Deutschland heute besser.

Jens Warmers war sichtlich gerührt. Dann überreichte er unser gemeinsames Gastgeschenk: Einen Original-Abzug eines 200 Jahre alten Panorama-Stahlstichs von Frankfurt am Main von Carl Morgenstern, einem Spross der bekannten Frankfurter Künstlerfamilie Morgenstern und entfernter Verwandter des Schriftstellers Christian Morgenstern. Um das Geschenk in Empfang zu nehmen, wurden der Obermeister der Thorkell Mauni Lodge Nr. 7 (Birgir Thorarinsson), der Altmeister der Loge Nr. 27 Seimundur Frodi (Steindor Gunnlaugsson) und auch Eydis Egilsdottir, Obermeister der Frauenloge Nr. 17 Thorbjörg, nach vorn gebeten. (Es liest sich alles etwas wagnerianisch, aber genau so war es.) Sigrid merkte sich, wie es weiter ging: „Nun wurden auch alle Vertreter der anderen anwesenden deutschen Odd Fellow-Logen nach vorne gebeten. Jeder erhielt das Willkommensgeschenk, das Faksimile eines Kupferstichs vom Reykjaviker Logenhaus. Jens Warmers von der Goethe-Loge, Michael Frech von der Schiller-Loge, Fritz Elster von der Bayerischen Friedensloge Dachau-München, Rolf Ronneberger von der Hammonia-Maja-Loge aus Hamburg und Sigrid v. Atkary von der Bertha-von Suttner-Loge, München, nahmen die Rollen für ihre jeweiligen Logen entgegen. Am Ende der Geschenkeüberreichungen meldete sich noch Fritz mit seinem Friedensengel von der Dachauer Friedensloge als Gegengeschenk. Mit einem 200 Jahre alten Stahlstich konnte er nicht konkurrieren, aber er erzählte in Englisch die Geschichte zu seinem Geschenk, einer Holographie des Bayerischen Friedensengels, dessen Original auf einer Säule über dem Isar-Hochufer von München steht.

Sigrid überbrachte danach die Grüße ihrer Münchner Loge. Hier kam ihr die Namenspatronin ihrer Loge, „Bertha von Suttner“, sehr zu Hilfe, indem sich gerade in diesem Jahr deren Todesdatum zum hundertsten Male jährt. Da von den Schwestern nur eine einzige, Eydis, anwesend war, und direkt auch beim Stehpult stand, war es leicht, die Münze ihr mit einer spontanen Umarmung zu überreichen. Sie hatte sich - erzählte sie später - ungemein gefreut, denn ihre Loge war erst Ende 2012 gegründet worden und unsere Bertha-Münze war das allererste Geschenk, welches ihre Loge erhielt.

Beim kalten Buffet saßen wir gemischt mit den isländischen Männern und Frauen. Eine Überraschung gab es an unserem Tisch: Zwei Plätze neben Fritz saß ein Bruder aus Norwegen, ein Deutsch sprechender Bruder, der zufälligerweise geschäftlich in Reykjavik war und stets die Gelegenheit wahrnimmt, an Hallensitzungen von Odd Fellows teilzunehmen. Karl Arne Schneider heißt er. Karl Arne ist gebürtiger Liechtensteiner und spricht Schwyzerdütsch wie Tanja, nur mit etwas weniger „ch“. Und natürlich ein gutes Englisch, ohne das er seine Geschäfte für eine Dentalfirma nicht machen könnte. Er ist zudem ein Beispiel des Erfolgs des Schweizer Geschäftsmodells. Er spricht mehrere Sprachen, hört zu, was die anderen erzählen, oft dass diese nicht ahnen, dass der Mann neben ihnen ihre Sprache versteht. Uns aber offenbart er sich. Es entsteht ein intensives Freundschaftsgespräch, das beweist, wie wertvoll es ist, als Odd Fellow einen festen Plafonds zu haben, was Ehrenkodex und Zuverlässigkeit betrifft. Wir können einander vertrauen. Wir tauschen Visitenkarten und, als wir erfuhren, dass er Mitte Juli geschäftlich in München weilt, laden wir ihn ein zu unserer Offenen Festloge am 14. Juli 2014.

Nach dem Essen wurden wir von den isländischen Brüdern in deren privaten Autos zurückgebracht ins Hotel.

Es ist unausgesprochen ein Akt der Höflichkeit, die isländischen Brüder (und Schwestern) in Deutschland willkommen zu heißen. Bruder Jens mit seiner Goethe-Loge schafft das nicht allein, seine Loge hat 15 Mitglieder. Aber es ist eine Chance, Freundschaft über Deutschland hinaus zu schließen mit Brüdern im Norden. Und Jens plant bereits für 2017 einen neuerlichen Besuch auf der Insel der Sagas, Elfen und Vulkane, der Ásbjörns, Addis und Guttormurs - und von Tanja, die dann ihr Kind geboren haben wird.